von Sascha Erni, 15.06.2017
Absurd nah am Leben
In der Edition Signathur ist ein bemerkenswertes Buch mit Texten von Schizophrenen erschienen. Mai philosophisch, mal wirr, aber immer sehr menschlich.
Von Sascha Erni
«Eigentlich hatte ich vor, zur Audio-CD nur ein Booklet zu veröffentlichen. Im Verlauf des Projektes wurde es dann ein Buch mit CD» erklärte mir Mario Gmür im Gespräch. Und tatsächlich: Die CD steht im Zentrum von «Die Gefühle befinden sich im Gehirn», was aber das Buch in keinster Weise abwerten soll. Beides sind eindrückliche Dokumente, aber in der musikalischen Begleitung durch Franco Mettler und besonders dem Vortrag des Schauspielers Jaap Achterberg erreichen die «Gefühle...» eine bemerkenswerte Tiefe: denn die zwei illustrieren die Vorlage nicht einfach mit Stimme, Saxophon und Klarinette, sondern interpretieren sie und setzen Kontrapunkte.
Die Live-Aufnahme aus dem Jahr 2009 hört sich stellenweise an wie experimentelles Cabaret, dann wieder wie eine Lyrik-Lesung. Achterberg weiss, wo er Gravitas in seine Stimme legen muss – oder für eine komödiantische Komponente widersinnig eingesetzt werden kann. Wenn er das «Einschreiben an den Schweizer Bundesrat» vorträgt, glaubt man vor seinem geistigen Auge eine Loriot-Politsatire zu sehen. Oder aber einen der unzähligen Wutschreiber, die sich in den Kommentarspalten der Tageszeitungen tummeln. Diese Bandbreite findet sich auch bei Mettler: von polyrhythmischen Motiven, die an Steve Reich erinnern, über atmosphärische Klänge bis zu Zitaten aus dem Pop weiss er es, die Texte nicht nur mit einer «Filmmusik» zu versehen, sondern, so zu sagen, via seine Instrumente vorzulesen.
Manchmal muss man beim Lesen laut lachen
Die Texte in «Die Gefühle...» sind manchmal dermassen absurd, dass man beim Lesen laut herauslacht, nur, um dann auf der nächsten Seite das Lachen wieder runterzuschlucken. Die Bilder des als «Heinz» anonymisierten Künstlers – ein Klient der Psychiatrie Münsterlingen – tun ihr übriges, aus Buch und CD mehr zu machen als einfach nur Audio + Text.
Mario Gmür schreibt in seinem Vorwort: «Was ist es, was mich daran hinderte, diese Texte einfach auf die Seite zu legen? Es ist die Unbeirrbarkeit, mit der diese Menschen ihre Zweifel äussern und ihre eigene Welt bauen.» Ich zumindest bin froh, dass Gmür aufs Schubladisieren verzichtet und die Texte einem breiteren Publikum zugänglich gemacht hat. Wer mehr über die Geisteswelt von Menschen mit Schizophrenie erfahren möchte, und dadurch auch über seine eigene Realitätswahrnehmung, dem seien die «Gefühle...» ans Herz gelegt. Manchmal philosophisch, manchmal wirr, manchmal lustig, erschreckend, verstörend ... aber immer nur all zu menschlich.
Die Gefühle befinden sich im Gehirn. Texte von Schizophrenen. EDITION SIGNAThUR. Dozwil, 2017. ISBN 978-3-906273-13-6.
Weiterlesen:
Mehr zur Entstehung des Buches und der Edition SignaThur von Bruno Oetterli lesen Sie hier: http://www.thurgaukultur.ch/magazin/3235
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