von Sascha Erni, 17.04.2016
Gute Grenzen sind transparent
Zum zweiten Mal lud der Thurgauer Unternehmer Christoph Lanter am 15. und 16. April 2016 zur Grenzdenken-Konferenz auf den Lilienberg in Ermatingen ein. Wie bereits letztes Jahr (Thurgaukultur berichtete) zeigte sich das Programm äusserst vielfältig. Auf den ersten Blick fragte man sich, was denn Staatskritik, Transgender, Apnoe-Tauchen und die Liechtensteiner Aussenpolitik gemein haben könnten. Lanter erklärte die Zusammenstellung der Referate - und damit die Idee hinter dem «Grenzdenken» - bildlich: Kolumbus wollte eine neue Route nach Indien finden, landete aber in der «neuen Welt». Er habe Grenzen übertreten, sowohl geographische wie auch gesellschaftliche, und so eine bisher unbekannte Insel entdeckt. Dasselbe sollte die Konferenz ermöglichen. Keine fertigen Lösungen präsentieren, sondern Grenzen aufzeigen und helfen, «anders» als sonst zu denken - um so zu neuen Lösungen zu kommen.
«Der Gedankenjäger» Tobias Heinemann zeigte in seinem Showprogramm, mit nicht gerade wenig Körpereinsatz, die Grenze zwischen Manipulation und Reaktion auf.
Die Teilnehmenden waren also genau so gefordert wie die Referenten, keine Konsumenten einer Lehrveranstaltung. Das zeigte sich bereits während Lanters Eröffnungsrede: Sandra Gräfin Bernadotte von der Insel Mainau musste ihr für Samstag geplantes Interview absagen, aber statt einen Ersatz aufzubieten, waren Spontan-Vorträge dreier Teilnehmer gefragt. Diese Ungezwungenheit zog sich wie ein roter Faden durch das «Grenzdenken» - anders, als man bei der doch eher abgeschotteten Anmutung des Lilienbergs erwarten würde.
Grenzerfahrungen
Der in der Eröffnung angesprochene Grenzbezug war bei vielen Referaten schnell erfasst. Etwa dann, als der Chirurg Volker Wedler sein Nahtoderlebnis eindrücklich, fast lyrisch in den Kontext mit seiner Arbeit als Entwicklungshelfer in Rwanda oder im Gaza-Streifen stellte. Oder, vielleicht am deutlichsten, wenn die Liechtensteiner Aussenministerin Aurelia Frick betonte, dass das Fürstentum nur mit nationalen Grenzen seine Souveränität erhalten konnte, sich Ziele und Entwicklungen aber ändern - die Grenzen also nicht verschwinden, aber transparenter, durchlässiger werden müssen.
Moderator Matthias Wipf im Gespräch mit der sehr lebhaften Liechtensteiner Politikerin Aurelia C. K. Frick
Wenn Sebastian Wörwag hinterfragt, ob man immer nach dem Nutzen einer Idee suchen sollte und schliesslich «L’art pour art» als Innovationsprinzip propagiert, dann zeigt aber auch der Rektor der FHSG eine solche, weniger offensichtliche, Grenze auf - einen «Gedanken-Zöllner», der insbesondere Bildungspolitikern und Unternehmerinnen oft im Wege steht. Was hat das Abschaffen des Geschlechtseintrages im Personenregister mit «Grenzen» zu tun? Viel, wie der Gynäkologe und Buchautor Niklaus Flütsch in einer schlüssigen Argumentationskette vom Geschlechtsrollendruck über -Identität zum Geschlecht-als-Tendenz (statt naturgegebene Definition) darlegte. Auch hier, wie bei allen Vorträgen, galt: Das Publikum war nicht stiller Zuhörer, sondern beteiligte sich lebhaft, was in der Erkenntnis gipfelte, dass der staatliche «Blick in die Unterhose» durchaus als Eingriff in die Privatsphäre verstanden werden kann.
Niklaus Flütsch stellt die Frage zum Verhältnis zwischen Geschlechterrolle und Geschlechteridentität in den Raum.
Im liberalen Sinne ist liberal nicht immer liberal
Das thematische Kernstück des «Grenzdenkens» machten dieses Jahr gesellschaftspolitische Fragen aus. Wenn die zwei Zukunftsforscher Andreas Walker (Präsident des akademischen Vereins für Zukunftsforschung Swissfuture) und der Daimler-Wissenschaftler Alexander Mankowsky (per Skype live aus Berlin zugeschaltet) über Automation, die «vierte Industrielle Revolution» und die Zukunft der Mobilität sprachen, dann spürte man: Hier blicken zwei Menschen optimistisch in die Zukunft, sehen aber die möglichen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht unkritisch. Führt uns die Automation zu mehr Freiheiten, oder beraubt sie ganze Generationen ihrer Identität, weil sich viele Menschen über ihre Arbeit definieren? Wie soll eine liberale Gesellschaft damit umgehen, dass immer mehr Menschen im Arbeitsprozess «unnötig» werden, während wir gleichzeitig mit mittelalterlichen Dogmen wie «Brot im Schweisse des Angesichts» sozialisiert werden? Werden Berufsfelder, die wir heute noch gar nicht kennen, der Mehrheit einen «Broterwerb» ermöglichen, oder scheitert diese Vorstellung an einer Fehleinschätzung dessen, wie schnell die Automation weiterschreiten könnte?
Der Philosoph Alexander Mankowsky referiert über die «Zukunft der Mobilität» - via Telearbeitsplatz.
Nichts zeigte an diesem Vor-Wochenende das Spannungsfeld der Freiheitsbegriffe besser auf als die zwei Vorträge von Oswald Sigg und Daniel Model. Während Sigg als Mit-Initiant des bedingungslosen Grundeinkommens, über das die Schweizer Bürger demnächst abstimmen werden, eine Umverteilung des Reichtums schon rein zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und damit der individuellen Freiheit fordert, ist für Unternehmer Model der Sozialstaat verlogen und jegliche Umverteilung nur Werkzeug, erfolgreiche Menschen auf Mittelmass zurückzustutzen - also das genaue Gegenteil von «freiheitlich». Wenn Sigg die Gesellschaft als Grundlage für mehr Freiheit des Einzelnen sieht, stellt Model das Individuum ins Zentrum, das Kollektiv bleibt Bremsklotz. Nur Individuen könnten denken, eine Gruppe lediglich nach fertigen Gedanken (von einem Individuum erdacht) fischen. Wenn Model Suva-Kontrollen als Gängelei ansieht und sich fürchterlich über «das ist halt Gesetz» aufregt, dann kritisiert Sigg eine Elite, die ohne die Errungenschaften der Gemeinschaft nie zur Elite geworden wäre. Wo Sigg den Sozialstaat als Voraussetzung für den individuellen Erfolg und mehr Freiheiten wahrnimmt, weil eine gewisse Grundlage gegeben sei und anachronistische Zwänge wegfielen, empfindet Model staatliche Krankenversicherungen und Altersvorsorge als «unnötig», da sie Freiheiten beschränkten. Es sei die Sache jedes einzelnen, auf seine Gesundheit zu achten und für eine Zeit vorzusorgen, wo er keine Leistung mehr erbringe. Das könne schliesslich jeder und jede, wenn nur nicht der Staat idealistische Regeln aufstellen würde.
Organisator Christoph Lanter und Unternehmer Daniel Model
Leider haben es die Organisatoren des Grenzdenkens versäumt, ein Streitgespräch mit den zwei Referenten einzuplanen. Oder vielleicht wurden die zwei Vorträge ja in weiser Voraussicht auf unterschiedliche Tage verteilt? Gegensätzlicher könnten die Meinungen nicht sein. Auch wenn auf dem Podium vielleicht kein Blut geflossen wäre, es bleibt das «vielleicht».
Ein gut gelaunter Oswald Sigg erzählt im Anschluss an seinen Vortrag davon, wie schwierig es sei, die «BGE-Initiative» zu erklären.
Eine verpasste Grenzerfahrung? Nicht unbedingt. Denn die Gespräche, die interessanten Diskussionen, geschahen wie nach allen Vorträgen unter den Teilnehmenden, nicht auf der Bühne. Die Grenzen, Sachzwänge, Probleme und Chancen, die die Referenten präsentierten, taten bereits ohne das direkte Gespräch ihr Werk. Die Besucher auf dem Lilienberg diskutierten die Gedanken-Anstösse intensiv, ob in den Pausen, beim Steh-Dinner oder beim Absacker in der Remise des Lilienbergs. Bei manchen taten sich Fragen auf wie: Hatte Ayn Rand vielleicht doch recht? Oder ist der Mensch ohne eine stabile Gemeinschaft kaum überlebensfähig? Liegt im Spannungsfeld der Extreme der Weg zur Innovation oder der Rutsch in den Untergang - weil man sich ohne Leitplanken gegenseitig über den Haufen rennt? Ist es bloss praktisch, Menschen in «Mann» und «Frau» zu unterteilen, oder sogar wichtig, weil eine stabile Gemeinschaft gewisse Polaritäten benötigt?
Der Zeichner Roland Siegenthaler im Einsatz – seine «echt praktischen Visualisierungen» fassen die Veranstaltungstage zusammen.
Das nächste «Grenzdenken» ist in Vorbereitung: Es soll am 7. und 8. April 2017 stattfinden, wieder auf dem Lilienberg. Die Hürde «ausverkauft!» wurde dieses Jahr bereits genommen. Kann sich die Veranstaltung etablieren? Wenn die Organisatoren weiterhin einen so offenen Umgang bei der Themenwahl verfolgen werden, dann stehen die Chancen gut. Denn wenn das Ziel sein soll: Grenzen sehen, transparent machen, hinterfragen, überwinden? Dann wäre ein strafferes Programm kontraproduktiv. Es bleibt zu hoffen, dass die Veranstaltung am Untersee ihre endgültige Heimat gefunden hat. Denn was wäre passender als der Blick auf eine Grenze, die nur von einem See bestimmt wird?
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