von Brigitta Hochuli, 07.11.2010
Aus der Provinz die Stärke schöpfen
Claudia Rüegg hat von Humbert Entress das Präsidium der Kulturstiftung des Kantons Thurgau übernommen. Sie sprechen von Liebe und Leidenschaft und der Innenwirkung der hiesigen Szene das Hohe Lied.
Brigitta Hochuli
Humbert Entress fällt der Abschied schwer. Aber die Stiftungsurkunde beschränkt die Amtsdauer auf höchstens zwölf Jahre. „Haben Sie meine Tränen gesehen?“, fragt der scheidende Präsident. Und er meint das ernst. „Ich hatte eine so wahnsinnig gute Zeit“, sagt er. Was das Beste war? „Die Begegnung mit Menschen, die sich um Kultur kümmern oder Kultur schaffen, das Entdecken von viel Neuem in der Thurgauer Kulturszene“, erklärt er. Namen nennt er nicht, um niemanden besonders hervorheben zu müssen.
Das spricht für die vermittelnde Rolle, die Entress als Anwalt und „Greenhorn“ an der Spitze der heute jährlich 1,1 Millionen Franken verteilenden Stiftung seit 1999 gespielt hat. Er stamme nicht aus dem „Kuchen“, betont er in einem Gespräch wiederholt. Dabei hat er seit der frühen Kindheit „Bücher gefressen“, Radio gehört und mit 13 Jahren in der Galerie Bollag in Zürich sein erstes Bild gekauft. Schwer tut sich Humbert Entress auch mit dem Abschied von den Stiftungsräten und dem Stiftungsbüro, von der „freudvollen Ernsthaftigkeit und Sorgfalt“, mit der hier gearbeitet werde.
Alles war Höhepunkt
Nicht Personen, dafür Projekte hebt Entress ans Licht: Angestossen oder gefördert hat die Kulturstiftung das Rollende Kino, das theater.now, die Lyriktage, jazz.now, generations ... So wenig, wie er Personen hervorhebt, kann er die Höhepunkte seiner Amtszeit benennen. „Höhepunkt ist, dass es keinen gab.“
Ärgerlich und lästig hingegen seien vor sieben Jahren die Filzvorwürfe an den Stiftungsrat gewesen. Er habe es bedauert, dass aus „mangelhafter Kenntnis falsche Schlüsse gezogen worden sind“. Denn er habe nie erlebt, dass Entscheide der Kulturstiftung zu inhaltlich seltsamen Ergebnissen geführt hätten oder jemandem Unterstützung aus Vetterliwirtschaft oder Nichtunterstützung aus Missgunst zuteil geworden sei. Dass die Stiftung verwaltungsunabhängig und niemandem Rechenschaft schuldig sei, führe zu einer Haltung, die nur der Sache und der eigenen Überzeugung verpflichtet sei, so Entress. Im Zweifel entscheide man so immer für die Kultur.
Gegen Filz abgesichert
„Um diese Haltung haben wir auch gerungen“, ergänzt die neue Präsidentin Claudia Rüegg. Sie selber könnte Angriffsflächen bieten, und das weiss sie auch. Sie ist seit zwei Jahren Stiftungsrätin, Pianistin, studierte Kulturwissenschafterin, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Thurgau (PHTG), führt das Forum für andere Musik, mit dem sie 2005 Kulturpreisträgerin wurde, hat vom Kulturamt zweimal Förderbeiträge erhalten und einmal ein Gesuch an die Kulturstiftung eingereicht. Klar, dass sie künftig beim Forum ins zweite Glied und in der Stiftung in den Ausstand tritt, wenn es um dessen Angelegenheiten geht.
Die Stiftung sei gegen Filz, der im Übrigen in einem so kleinen Kanton nicht zu vermeiden sei, abgesichert, sagt Humbert Entress. Gesuche würden intern und extern mit Gutachten geprüft. „Wir sind keine Geldverteilungsmaschine, sondern eine Dienstleistungs-Stiftung.“ Jetzt komme mit Claudia Rüegg eine Frau mit absolut besten Kenntnissen der Thurgauer Kulturszene an die Spitze, die durch ihr Engagement bewiesen habe, dass sie nicht nur Bestandteil dieser Szene, sondern auch Beobachterin sei. „Sie war unsere Wunschkandidatin.“
Liebe und Leidenschaft
Im Stiftungsrat sei „die Diskussionsfreude ausgeprägt“, umschreibt Humbert Entress die Führungsaufgabe des Präsidiums. Davor hat Claudia Rüegg aber keine Angst. An der PHTG hat sie unter anderem den Zugang für Studenten ohne Maturität vorbereitet. Was sie für die neue Aufgabe motiviert, ist nicht der grössere Gestaltungsspielraum als Präsidentin. Vielmehr geht es ihr um die kulturschaffenden Menschen und ihre Arbeitsplätze. Gerade vor diesem Hintergrund betont sie die Wichtigkeit ihrer Fachkompetenz. Betriebswirte an der Spitze von Kulturinstitutionen empfindet sie als „Kulturverlust“. Sie wolle die organisatorischen Fragen auf eine Meta-Ebene stellen. „Genau!“, pflichtet ihr Entress bei. Für diese Aufgabe brauche es auch Liebe. „Und Leidenschaft!“, doppelt seine Nachfolgerin nach.
Aufmerksam bleiben
Zur Leidenschaft von Claudia Rüegg kommt Empathie. Sie habe vorallem bei bildenden Künstlern eine gewisse Unzufriedenheit mit der Situation im Thurgau, eine resignative Haltung festgestellt. Dabei gehe es um Arbeits- und Präsentationsbedingungen, aber auch um fehlende Resonanz in- und ausserhalb des Kantons. „Da will ich aufmerksam bleiben. Irgendwann taucht eine Idee auf.“ Schnelle Lösungen gebe es allerdings nicht, warnt sie, die Gründe seien individuell. Auf keinen Fall sei man eine soziale Institution. Aus dem Thurgau mit seinen nur 250 000 Einwohnern sei es für Künstler schwierig, die ganze finanzielle Existenz zu schöpfen. „Das ist ein Traum, aber nicht die Realität. Man muss sich als Kulturschaffender in einen grösseren Raum bewegen.“
Ob Thurgauer Leuchttürme helfen könnten? Nein, ist Claudia Rüegg überzeugt. „Das ist das falsche Konzept.“ Kleine Szenen seien besser, Orte, an denen die Menschen ihre Schwellenängste verlören. Die Verbindungen zwischen ihnen zu schaffen, sei für sie die grösste Herausforderung. Dabei denkt sie - mit strahlenden Augen! - ans „Kulturwandern“ mit dem Forum für andere Musik. Da hätten Teilnehmer gesagt: „Wir sind soooo stolz auf den Thurgau!“. Wirklich wichtig sei nur die Innenwirkung der Kultur, meint Humbert Entress. Eine Leuchtturmpolitik, wie sie im Kulturfahrplan des Think Tank Thurgau formuliert worden sei, empfindet er als überheblich. „Wir müssen aus der Provinz die Stärke schöpfen.“
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