von Inka Grabowsky, 17.05.2022
Schreibinsel im Schulalltag
Der Frauenfelder Verein Bibliothek der Kulturen ermöglicht seit 2018 Jugendlichen kreatives Schreiben. Gerade läuft die fünfte Durchführung – zum ersten Mal mit Michèle Minelli. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Ein surreales Gedicht steht heute auf dem Stundenplan der Klasse E3a der Frauenfelder Sekundarschule Reutenen. Die erste Zeile ist den Nachwuchs-Dichtern vorgegeben: „Heute Nacht, da träumte mir von einer Schule...“
Die Schülerinnen und Schüler bekommen ausserdem willkürlich zugeteilte Stichworte geliefert, die sich die Kollegen in den Minuten zuvor ausgedacht haben. Daraus schaffen Vierergruppen nun weitere Zeilen:
„... die Fortnite spielt,
die einen Schmetterling vergast,
die ganz viel lernt
und unter dem Ozean liegt.“
Experimente zwischen Expressionismus und Dadaismus
Applaus ertönt, auch von Schreibcoach Michèle Minelli: „Das ist eine der vielen Möglichkeiten von Surrealismus, einer Textart, die gern mit Zufällen spielt, die auch Unmögliches präsentiert oder die das Weltgeschehen in seiner ganz eigenen Art und Weise aufgreift“, sagt sie. Zuvor hatte sie bereits mit den Jugendlichen in den Themenfeldern Expressionismus und Dadaismus herumgespielt.
18 Sek-Schüler im Alter zwischen 14 und 16 Jahren hat die Schriftstellerin in den vergangenen fünf Wochen betreut. Jede Woche hatte sie eine Doppellektion Zeit, um die Jugendlichen für kreatives Schreiben zu begeistern. „Dabei wollte ich nie Lehrerin werden“, lacht die 54-Jährige. „Als Kind kamen für mich nur Ponys züchten und Schreiben in Frage.“
Auch für die Autorin anregend
Inzwischen aber hat sich Minelli nicht nur als Autorin, sondern auch mit ihren Schreib-Seminaren auf dem Iseliberg einen Namen gemacht. Deshalb wurde sie vom Verein Bibliothek der Kulturen (VBdK) für das Schulprojekt angefragt. „Mit der Altersgruppe habe ich sonst nicht viel zu tun. In meinen Workshops sind meist Erwachsene. Deshalb hat es mich interessiert. Ich suche immer Anregungen.“
Der VBdK hat die Projektidee seinerseits von Interbiblio, dem Schweizer Kompetenzzentrum für interkulturelle Bibliotheksarbeit übernommen. „2018 haben wir das erste Mal das Projekt durchgeführt“, erzählt Joana Keller aus dem Vorstand des Vereins, der sich seit 2008 für interkulturelle Begegnungen der Menschen im Raum Frauenfeld einsetzt.
Ein Schreibcoach begleitet drei Jugendliche
Der Fokus der „Schreibinsel“ lag zunächst darauf, jungen Menschen, die mit einer anderen Sprache als Deutsch oder zweisprachig aufgewachsen sind, einen Zugang zum kreativen Schreiben zu eröffnen. „Für uns war dabei Usama Al Shamani der ideale erste Schreibcoach.“ Der Frauenfelder Schriftsteller mit irakischen Wurzeln hatte damals gerade seinen ersten deutschen Roman veröffentlicht – „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ .
Als Schreibcoach begleitete er bei der ersten Schreibinsel drei Jugendliche aus dem kantonalen Integrationsprogramm, die sich in Texten zum Thema „Meine Heimat und ich" mit ihrer Herkunft beschäftigten. Bei den folgenden drei Schreibinseln begleitete Al Shahmani dann Schülerinnen und Schüler aus Klassen der Frauenfelder Sekundarschulanlagen Auen und Reutenen, die sich bewusst dafür angemeldet hatten.
Es kommen nicht nur die, die es ohnehin interessiert
Der Verein entschied sich dann, die Schreibinsel für ganze Klassenverbände anzubieten, so dass nicht mehr nur jene jungen Menschen im Workshop sitzen, die sich ohnehin für das Schreiben interessieren. Im Zuge dessen wurden die Themen vielfältiger. Bei der zweiten Schreibinsel 2019 ging es um „Eine Welt ohne Sprache", 2020 um „Die Geschichte des geschlossenen Buches" und 2021 um eine „Insel der Fantasie".
Nach vier Durchführungen mit Usama Al Shahmani machte sich der VBdK für die fünfte Durchführung auf der Suche nach einem neuen, lokalen, weiblichen Schreibcoach und engagierte Michèle Minelli.
Was die Schüler:innen sagen
Die Schülerinnen und Schüler machten bei Michèle Minelli mal mehr, mal weniger motiviert mit. Ganz verweigert hat sich niemand. Eine Schülerin habe sogar gleich gesagt, dass sie gerne Schriftstellerin werden möchte. „Für einige war es wohl im ersten Moment der pure Horror“, sagt Minelli. „Deshalb habe ich kurze Literaturformen gewählt.“
Wenn jemand nicht gerne schreibe, dann sei das Verfassen einer Erzählung zu unangenehm. Mikrofiktion, also eine kurze Geschichte aus ein bis zwei Sätzen zu bilden, das habe funktioniert. Auch Essays und Kurzgeschichten wurden verfasst. „Neun Jahre lang haben die Schüler gehört, ‚Schreibe richtig!‘. Das werfe ich jetzt über den Haufen.“ Das gefällt den meisten Jugendlichen.
„Es war schön, der Kreativität einmal freien Lauf zu lassen“, so ein Mädchen. „Die Schreibaufträge waren nicht immer meins“, sagt ein Junge. „Das war manchmal langweilig.“ „Aber einiges war auch besonders lustig“, ergänzt jemand anderes. „Wisst ihr noch, wie wir bestimmte Buchstaben vermeiden mussten?“ Spass habe es gemacht, sei mal etwas anderes gewesen. Und eine andere Lehrperson zu erleben, sei auch cool.
Auch mal schön für den Deutschlehrer
Fabian Krömler stimmt dem zu. Der Deutschlehrer sah seine Schüler mit anderen Augen: „Ich war beeindruckt, was und wie die Schülerinnen und Schüler geschrieben haben. Es war gut, Fantasie von jemanden erklären zu lassen, der professionell schreibt.“
Er hatte sich nach der Ausschreibung durch den Verein Bibliothek der Kulturen mit seiner Klasse für die Projektteilnahme beworben. Geld musste die Schule dafür nicht bezahlen, aber die Lehrpersonen müssen das kreative Schreiben natürlich in den üblichen Schulstoff integrieren.
Fabian Krömler sieht darin kein Problem: „Der Lehrplan ist nicht starr. Er lässt sich ausgestalten. Und jetzt ist ‚Schreiben‘ für das Semester abgearbeitet.“
Bisher nur für Frauenfelder
Inzwischen sind die Workshops beendet. Die entstandenen Texte werden - wie bei jeder Durchführung - in einem Heft veröffentlicht und bei einer Vernissage am 8. Juni von den Autor:innen vorgetragen.
Damit auch das klappt, kommt noch eine Theaterpädagogin vorbei und übt mit den Jugendlichen den grossen Auftritt. Auch das sponsort der Verein Bibliothek der Kulturen mit Hilfe seiner Unterstützer, dem kantonalen Integrationsprogramm, dem Amt für Gesellschaft und Integration der Stadt Frauenfeld sowie den Primar- und Sekundarschulgemeinden Frauenfelds.
2023 geht es weiter
Die lokalen Geldquellen bedingen die lokale Wirkung. „Wir arbeiten bisher ausschliesslich mit Frauenfelder Schulen zusammen“, so Joana Keller. „Sollten Lehrpersonen aus anderen Orten auf uns zukommen, müssten wir schauen, ob und wie wir das möglich machen können.“
Für 2023 ist bereits die sechste Schreibinsel geplant, dieses Mal mit einer Klasse der Sekundarschulanlage Ost.
Die Vernissage zum 92-seitigen Buch „Kurze Formen. Frauenfelder Sekundarschülerinnen und -schüler schreiben“ findet am 8. Juni um 19 Uhr in der Kantonsbibliothek statt. Die Veranstaltung ist kostenlos, der Verein bittet um Anmeldungen an info@vbdk.ch
Schreibwettbewerb «schreibLust»
Das Schreibwerk Ost von Michèle Minelli organisiert in Kooperation mit der Buchhandlung „Bücher zum Turm“ www.buecherzumturm.ch und mit der Bibliothek Bischofszell den vierten Bischofzeller Schreibwettbewerb „schreibLust“. Kinder, Jugendliche und Erwachsene können bis zum 12. Juli 2022 ihre Texte einreichen – physisch oder per Mail an buecherzumturm@bluewin.ch
Die Regeln sind einfach. Man sucht sich im letzten Buch, das man selbst gelesen hat, auf der Seite 15 einen Satz aus. Der bildet dann die Keimzelle für ein Gedicht, einen Liedtext, einen Erfahrungsbericht oder eine Kurzgeschichte zum übergeordneten Thema „Bewegen“. Das Werk soll nicht länger als 10.000 Zeichen sein. Irgendwo im Text muss der gewählte Satz vorkommen. Das belegt man später mit einer Kopie der Seite 15 des Buchs.
Je fünf Autoren aus den drei Alterskategorien dürfen ihre Werke am 24. September in einer Lesenacht präsentieren. Zu gewinnen gibt es Büchergutscheine, Schreib-Workshop-Gutscheine und Schreibschätze sowie Ruhm, Ehre und Applaus.
Von Inka Grabowsky
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