Seite vorlesen

von Hans Gysi, 15.03.2016

Plädoyer fürs Leben

Plädoyer fürs Leben
| © Hans Gysi

es gibt tage da passiert fast nichts im dorf - und doch passiert mehr als man für möglich hält. tage an denen man am fenster steht und beobachtet. der alltag nimmt seinen lauf, die zeit rinnt durch die gassen, passanten kommen und gehen.

Hans Gysi

schlag zwölf

stehe manchmal am fenster
ganz selten was los wenig verkehr
ein paar kunden eilen zur metzg
mütter holen ihre kinder aus der
spielgruppe setzen sie in die
autos andere rauschen vorbei
und manchmal bei sonne sehe ich
ein zaungast hinterm küchenfenster
von weitem die churfirsten in weiss
ein velo fährt den hügel hinab

selten ein gruss über die strasse
im block vis a vis verschwinden
die leute schnell im eingang
wie wenn er sie verschluckte
niemand am fenster kein kind
ihre balkone schaun auf die andere seite
die H BOBROW HANDLUNG
ist eine unterkunft geworden nur die
schrift ist noch auf der mauer
die nachbarn lassen ihre ziegel befestigen

manchmal läuten die glocken nach zwölf
das sei die totenglocke sagen sie
sie kündet dass ein einwohner gestorben
ich könnte auf dieses geläute verzichten
das macht doch niemanden lebendig
aber morituri te salutant du überlebender
und manchmal sammeln die kinder papier
mit ihren gelbleuchtenden signalanzügen
ihre stimmen und der eifer sind
ein helles plädoyer fürs leben

dann schlag zwölf seh ich manchmal hinaus
sehe die schülerinnen auf ihren velos
sie machen einen zwischenhalt an
der kreuzung stecken ihre köpfe
zusammen ein lachen schallt herüber
wie zwitschern junger vögel
soviel unverfrorene frische
die wildheit junger mustangs ich schau
ihnen nach wie sie die strasse
hochfahren die zukunft in den beinen

ich wende mich nach innen da liegen
die bücher im staub des vergessens


Hans Gysi (62) hat in Zürich eine Lehrer- und eine Schauspielausbildung gemacht. Als freischaffender Regisseur von Frühlingserwachen bis zur Kleinbürgerhochzeit inszeniert & als Schauspieler und Autor gearbeitet. Teilpensum in Berufsschule. Verschiedene Preise und Unterstützungen. Lebt über 25 Jahre im Thurgau. Unterhält das theaterbureau gysi. Veröffentlichungen „pocket songs“ und „generalprobe“ im Verlag edition 8.

...
Letzter Beitrag:
siebenjähriger schlaf

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Kolumne

Kommt vor in diesen Interessen

  • Blog
  • Lyrik

Werbung

Was bedeutet es heute Künstler:in zu sein?

In unserer Serie «Mein Leben als Künstler:in» geben dir acht Thurgauer Kulturschaffende vielfältige Einblicke!

Unsere neue Serie: «Wie wir arbeiten»

Unsere Autor:innen erklären nach welchen Grundsätzen und Kriterien sie arbeiten!

Eine verschleierte Königin

Einblicke ins Leben der Künstlerin Eva Wipf: Hier geht's zu unserer Besprechung der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau.

„Der Thurgau ist ein hartes Pflaster!“

Wie ist es im Kanton für junge Musiker:innen? Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen!

Fünf Dinge, die den Kulturjournalismus besser machen!

Unser Plädoyer für einen neuen Kulturjournalismus.

Kultur für Klein & Gross #22

Unser Newsletter mit den kulturellen Angeboten für Kinder und Familien im Thurgau und den angrenzenden Regionen bis Ende Januar 2025.

#Kultursplitter im November/Dezember

Kuratierte Agenda-Tipps aus dem Kulturpool Schweiz.

«Kultur trifft Politik» N°I

Weg, von der klassischen Podiumsdiskussion, hin zum Austausch und zur Begegnung. Bei der ersten Ausgabe am Mittwoch, 27. November geht es um das Thema "Räume".

15 Jahre Kulturkompass

Jubiläumsstimmen und Informationen rund um unseren Geburtstag.

"Movie Day": jetzt für 2025 bewerben!

Filme für das 12. Jugendfilm Festival können ab sofort angemeldet werden. Einsendeschluss der Kurzfilme für beide Kategorien ist der 31.01.2025

Ähnliche Beiträge

Kolumne

Späte Erweckung

Freitag starten die 15. Frauenfelder Lyriktage. Das lässt unseren Kolumnisten Michael Lünstroth an seine ersten Berührungen mit Gedichten denken. Sie waren, nun ja, nicht ganz einfach. mehr

Wissen

Kolumne

Unterm Sternenhimmel

Museums- und Muttertag in einem sind wahrlich geeignet, aus dem Thurgauer Angebot etwas Besonderes zu wählen. Omama, Tochter und Enkelin haben sich in Kreuzlingen unter die Sterne begeben. mehr

Kolumne

„Kinderunterhaltitis“

Omama war mit den Enkeln im Theater und in einer Bilbliothek. Vor dem Theater warb eine Versicherung mit „einer Krankheit, die auch wir haben“; in der Bibliothek spürte die Grossmutter den Rücken. mehr