von Rolf Müller, 04.06.2015
Thurgauer Kunstpower
Im Gegensatz zu den Expo-Öpfelringli seien die Thurgauer Kunstressourcen nicht beschränkt, freute sich Regierungsrätin Monika Knill anlässlich der Förderbeitragsvergabe an sieben Kulturschaffende am 4. Juni 2015.
„Die Förderung der kulturellen Vielfalt ist dem Kanton auch in der Kulturpolitik sehr wichtig“, betonte die Vorsteherin des Departementes für Erziehung und Kultur bei der Feier in Weinfelden. Sie stärke im dezentralen Thurgau den inneren Zusammenhalt. Allen Empfängerinnen und Empfängern der mit je 25‘000 Franken dotierten Förderbeiträge sei gemein, „dass sie nicht stillstehen, innovativ sind, vorwärts drängen, sich austauschen, im Kanton und über die Grenzen der Schweiz hinweg“.
Als Novum werden dieses Jahr fünf statt üblicherweise sechs persönliche Stipendien vergeben. Neu ist dafür ein je dreimonatiger Atelieraufenthalt in New York für zwei Künstlerinnen und Künstler.
Kulturförderung und Kulturpflege als Ergänzung
Analog der Kulturbotschaft 2016 – 2020 des Bundes war Globalisierung auch ein Thema der Kulturministerin. Diese setze Kulturschaffende und –unternehmen einem harten internationalen Wettbewerb aus – „die Reduktion kultureller Ausdrucksformen und Angebote wäre eine mögliche Folge“. Staatliche Kulturförderung zwischen dem Ermöglichen von Austausch und dem Bewahren von Traditionen könne deshalb eine Gratwanderung sein. „Kulturförderung und Kulturpflege sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sich ergänzen und befruchten.“
Kultur habe darüber hinaus nicht nur für die Konsumenten, sondern auch für die Gesamtwirtschaft eine wichtige Bedeutung, immerhin habe ein Schweizer Haushalt 2011 pro Monat durchschnittlich 254 Franken für Kultur ausgegeben. Und im Gegensatz zu den Thurgauer Öpfelringli im Schweizer Pavillon an der Expo Mailand sei die Kunst nicht endlich. „Solange die Thurgauer Künstlerinnen wie Sie, liebe Förderbeitragsempfängerinnen und -empfänger, so aktiv, kreativ und innovativ sind, müssen wir uns um die Thurgauer Kunst keine Sorgen machen.“
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Die Preisträgerinnen und Preisträger 2015
Joëlle Allet, 1980, bildende Künstlerin, Sirnach (Bilder: Rolf Müller)
Ihren Förderbeitrag wird Joëlle Allet für eine Weiterbildung im Bereich des Tiefdrucks verwenden. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde die in Leukerbad geborene Künstlerin mit dem Werk „Die fabelhafte Regierung“ als Kunst am Bauprojekt am Regierungsgebäude Frauenfeld 2014 bekannt. Fuchs, Wildsau, Eule, Hase und Biber in Bronze versammeln sich da zu einer Art Schattenregierung. Doch wer nur oberflächlich hinschaue und denke: „Fünf Tiere, fünf Regierungsrätinnen und Regierungsräte – wer ist wohl das Wildschein? Haha!“ – dem entgehe der Kern, sagte Laudator Markus Landert. Sie frage viel tiefgreifender nach der Repräsentanz der Dinge, arbeite mit Verschiebungen, Verlagerungen, Verfremdungen. „Solches Auftauchen-Lassen der richtigen Dinge am falschen Ort, kann und soll irritieren. Manchmal nur für einen Moment. Aber das ist schon viel in einer Gesellschaft, in der alles bekannt ist, in der nichts mehr zu überraschen vermag“, sagte Landert.
Philippe Glatz, 1979, bildender Künstler, Kreuzlingen
Dem in St. Gallen geborenen Philipp Glatz hat die Jury den Förderbeitrag für eine produktive und selbstreflexive Weiterentwicklung seines Schaffens zugesprochen. Er arbeitet seit 2003 unter dem Namen Bildstein/Glatz mit dem Österreicher Matthias Bildstein zusammen. Ihr Schaffen in der Tradition des Absurden „besteht aus konzeptuellen Versuchsanordnungen, die sich gleichzeitig sehr physisch und real äussern. Ihre Kunst geht häufig mit einem Risiko einher und gleichzeitig vermarkten die Künstler dieses Risiko auf ebenso hintersinnige Weise wie sie den ganzen Kunstbetrieb persiflieren“, sagte Laudatorin Katharina Ammann. Sie nannte als Beispiel die 2009 in Arbon angefangene Holzbrücke über den See mit dem Titel „So weit das Budget reicht“. Der unvollendete Brückenschlag verweise auf finanzielle Abhängigkeiten, darüber hinaus spiegelten sich Themen wie politische Beziehungen und völkerverbindende Utopien, die allzu oft am Profitdenken scheiterten.
Rahel Kraft, 1984, Musikerin, Luzern/London
Die im Thurgau geborene und aufgewachsene Künstlerin plant mit dem Förderbeitrag die Entwicklung einer interaktiven iOS App für musikalische Live-Improvisation. So ein Gesuch hätten sie noch nie zu beurteilen gehabt, sagte Laudator Pat Kasper. Der derzeit in London studierenden Musikerin, Musikpädagogin und Ensembleleiterin kam die Idee bei der intensiven Auseinandersetzung mit der freien musikalischen Improvisation. Sie fragte sich, wie eine Klangentwicklung koordiniert werden, wie man die individuelle Sprache der Musiker erhalten und zugleich in einen Rahmen bringen kann und welche Spielanweisungen den Improvisationsprozess fördern. „Wichtig ist für sie, dass bei klanglichen Wechseln der musikalische Fluss nicht unterbrochen wird“, erklärte Kasper. So werde die App auf die traditionelle Notation verzichten und mit einfachen visuellen Parametern einer Improvisationsgruppe in alle Richtungen Klangwechsel erlauben - Klangkonzepte werden so in Echtzeit realisiert.
Gabor Nemeth, 1978, Schauspieler, Neftenbach
Seit 2008 festes Ensemblemitglied beim Theater Bilitz, hat Gabor Nemeth vor über 30'000 Zuschauern gespielt, über 300 Vorstellungen bestritten, neun Bühnenbilder erdacht und gebaut und ist in aktuell fünf Bilitz-Produktionen aktiv. Daneben hat er in zahlreichen weiteren Theater- und TV-Produktionen mitgewirkt. Er will den Förderbeitrag für eine Weiterbildung in Zeichentechnik, Stimmcoaching und Gesang verwenden, „für noch ausgeklügeltere Bühnenbilder und noch mehr Tiefenschärfe in seinen Figuren“, so Laudatorin Anja Tobler. Dafür bilden seine zwei ersten Ausbildungen, Zimmermann und Artist, das Fundament. Nach der Ausbildung an der Zürcher Comart-Schauspielschule schrieb und realisierte er selber Stücke, stellte Spezialrequisiten fürs Theater und das Schweizer Fernsehen her und begann, Bühnenbilder zu bauen. Nun will er wieder einen Schritt weitergehen. „Die Jury ist überzeugt, dass Gabor Nemeth das genau jetzt tun sollte“, sagte Tobler.
Meinrad Schade, 1968, Fotograf, Zürich
Dem in Kreuzlingen geborenen und aufgewachsenen Fotografen läuft es gut derzeit. Die Ausstellung „Krieg ohne Krieg“ kürzlich in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur und eine im Verlag Scheidegger & Spiess herausgegebene Publikation stiessen auf eine positive Resonanz. Da könnte er sich doch auf ausruhen und vom Ruhm leben. „Er aber ruht nicht“, sagte Laudatorin Ursula Badrutt. Seit 2003 arbeitet er am Langzeitprojekt „Vor, während und nach dem Krieg – Spurensuche an den Rändern der Konflikte“. Manchmal habe er Angst, es sich nicht leisten zu können, weniger produktiv zu sein, sich auf unbekannte Wege einzulassen. „Mit dem Förderbeitrag kann sich Meinrad Schade nun mehr Zeit lassen. Er wird einen Crash Kurs für Arabisch und Hebräisch besuchen, in Tel Aviv eine Ausstellung machen, aber auch ziellos reisen. In vielleicht fünf Jahren wird es ein weiteres Buch geben mit Bildern vom Rand des Krieges, zu dem mehr Länder gehören als uns lieb ist.“
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Atelier-Aufenthalte New York City 2015, vergeben vom Kulturamt und der Kulturstiftung des Kantons Thurgau
Niculin Janett, 1989, Musiker, Sulgen
„Er ist Instrumentalist, Arrangeur, Komponist und er ist auch Bandleader, Fundraiser, Konzertagent, Touroperator, Lehrer – kein Wunder, wenn man in seiner Bewerbung für das Atelierstipendium liest, dass es ihm im Alltag oft schwerfalle, eine fruchtbare Atmosphäre, den freien Raum für eine tiefgründige künstlerische Weiterbildung zu schaffen“, führte Claudia Rüegg in ihrer Laudatio zu Niculin Janett aus. Da passt New York: „Ein dreimonatiger Atelieraufenthalt in einer anderen Umgebung, losgelöst aus den bekannten Bezugsfeldern. Niculin will sich in dieser Zeit einerseits kompositorischen Projekten widmen und andererseits dem Saxophonspiel. Ziel ist die Aufnahme einer CD in New York, in Quartettbesetzung, mit Rich Perry, dem ehemaligen Lehrer.“ Die Zeit wird auch den eigenen Bands (wie „Janetts Jazzmusik Baukasten“, The Sad Pumpkins“ oder „Janetts DREIstigkeit“) zu gut kommen, seine Musik von New York erzählen. Ein Gewinn für alle.
Simone Kappeler, 1952, Fotografin, Frauenfeld
Für die renommierte Fotografin bedeuten die drei Monate New York eine Rückkehr nach 33 Jahren. Damals wanderte sie in den Big Apple aus, mietete in China Town ein Atelier. Weil Arbeit und damit Geld knapp war, kehrte sie 1983 nach Frauenfeld zurück, blendete Martha Monstein, Chefin des Thurgauer Kulturamts und Moderatorin des Abends, in ihrer Laudatio zurück. Damals fotografierte Simone Kappeler kaum, "irgenwie fehlte mir der Mut dazu,und es war mir nicht so wichtig, was ich heute bereue", schrieb sie in der Bewerbung. Sie wurde Mutter und beschäftigte sich fotografisch mit ihrem unmittelbaren Umfeld, der eigenen Geschichte. In jüngster Zeit reiste sie vermehrt ins Ausland, habe ein Gespür entwickelt, flüchtige zwischenmenschlichen Szenen in der Stadtatmosphäre festzuhalten. "Wir waren uns sicher, dass ihre Fähigkeit, zufällige Motive und Augenblicke einzufangen und zu verdichten, uns spannende Aufnahmen und einen aussergewöhnlichen Blick auf New York bescheren werden, sagte Monstein.
Die Jury 2015
Katharina Ammann, Abteilungsleiterin Schweizerisches Institut für Kunstgeschichte; Ursula Badrutt, Leiterin Kulturförderung/Kunstpflege des Amts für Kultur Kanton St. Gallen; Anja Bühnemann, Musikkritikerin; Dominik Deuber, Managing Director Lucerne Festival Academy, Musiker; Pat Kasper, Musiker, Tonstudio-Supporter; Astrid Künzler-Büchter, Tänzerin, Choreografin; Markus Landert, Direktor Kunst- und Ittinger Museum Thurgau; Martin Preisser, Kulturjournalist, Musiker; Roger Schweizer, Filmschaffender; Peter Surber, Journalist; Anja Tobler, Schauspielerin; Elisabeth Tschiemer, Verlegerin; Judit Villiger, Kunstschaffende; Nora Vonder Mühll, Theaterschaffende sowie Ramona Früh, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kulturamts (Vorsitz). (id)
Tarantino-Sound mit "Tony Dynamite and the shootin' beavers"
Die aus dem Unterthurgau und der Region Stein am Rhein stammende vierköpfige Band bereicherte die Feier mit ihrem eigenwilligen Surfsound. Mit Gitarre, Trompete, Bass und Schlagzeug gaben sie dem Publikum gekonnt das Gefühl, mitten in einem spassigen Film von Tarantino zu sitzen, in dem es jederzeit ins Blutige umschlagen kann.
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Ein Vierteljahr Big Apple - thurgaukultur.ch vom 9.12.2014
Geldübergabe mit Kunstpotenzial - thurgaukultur.ch vom 27.05.2014
„Kulturförderung wichtiger denn je“ - thurgaukultur.ch vom 11.06.2013
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